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Nein, das ist kein Tabu – Wir müssen über soziale Ungleichheit sprechen

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Pressemitteilung vom 05.03.2021

Nein, das ist kein Tabu – Wir müssen über soziale Ungleichheit sprechen

Am Mittwoch gab es eine Welle der Empörung. Grund waren Aussagen in verschiedenen Zeitungsartikeln, nach denen 90 Prozent der Patient:innen auf den Intensivstationen Migrationsgeschichte hätten und dieses Thema ein Tabu sei. Diese Art der Berichterstattung ist nicht nur inhaltlich, sondern vor allem auch moralisch falsch und gesellschaftlich gefährlich.

Spätestens als der Hashtag „Migrationshintergrund“ auf Twitter durch die Decke gegangen ist, wurde der gesellschaftliche Schaden, den diese Art von Berichterstattung immer wieder anrichtet, erneut deutlich. Denn bei Nutzern aus dem rechten politischen Spektrum ist lediglich hängengeblieben, dass die Migrationsgeschichte von Menschen tabuisiert werde, damit keine Rassismusvorwürfe aufkämen und 90 Prozent der Intensivpatient:innen Migrationsgeschichte hätten. Diese Zahl hat sich nicht nur als nicht repräsentativ herausgestellt, sondern lenkt auch von den eigentlichen Debatten ab.

Studien des Berliner Senats, aus anderen europäischen Ländern und der OECD weisen ebenfalls eine Korrelation zwischen Migrationsgeschichte und einer höheren Inzidenz auf[1]. Allerdings hören die Studien an dieser Stelle nicht auf. Die Gefahr, durch den Corona-Virus in der Intensivstation zu landen, erhöht sich nicht durch die Migrationsgeschichte, sondern durch soziale Umstände: Arbeit, Zugang zu Gesundheit, Sprache und Informationen, Wohn- und Familienverhältnisse sind die Faktoren, um die es geht. Denn Menschen mit Migrationsgeschichte leben oft in größeren Familien auf engem Raum, haben teilweise einen erschwerten Zugang zu Informationen und arbeiten in Branchen, in denen Home Office keine Alternative und ein hoher Kontakt mit Kunden:innen und Mitarbeiter:innen unumgänglich ist, z.B. im Personen- und Warenverkehr, in der Lebensmittelproduktion oder in der Pflege. In den USA gibt es eine ähnliche Entwicklung, nach der die Lebenserwartung von schwarzen Menschen 2020 deutlich stärker gesunken ist als die von weißen Menschen[2]. Auch dort wurde die prekäre Wohn- und Arbeitssituation von schwarzen Menschen als Erklärung herangezogen.

„Eigentlich gibt es also gar kein Tabu – ganz im Gegenteil: Wir müssen nur ehrlich über die echten Themen sprechen, nicht über Probleme, die keine sind. Menschen, die offensichtlich sozial benachteiligt sind, dürfen nicht immer wieder für negative Schlagzeilen instrumentalisiert werden. Warum wird sich über die Migrationsgeschichte von Menschen empört, nicht aber über die soziale Benachteiligung, die diese Menschen erfahren? Das ist doch eine Empörung wert“, kritisiert Gökay Sofuoğlu, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland e.V.

„Viele Ärzt:innen haben dankenswerterweise darauf aufmerksam gemacht, dass die Migrationsgeschichte, das Aussehen oder die Religion von Patient:innen keine Rolle spielen. Wir teilen diese Haltung. Stattdessen müssen wir über staatliches Versagen reden, wenn z.B. Menschen mit Migrationsgeschichte Informationen und Angebote des Gesundheitssystems nicht kennen und wahrnehmen können, Geflüchtete in Massenunterkünften leben und dem Virus völlig ausgeliefert sind oder in Armut lebende Menschen sich nicht ausreichend schützen können. Daher bitten wir dringend darum, keine Scheindebatten zu führen, sondern über die wahren Gründe solcher Untersuchungsergebnisse zu sprechen“, sagt Atila Karabörklü, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland e.V.

[1] https://www.tagesspiegel.de/berlin/mehr-infektionen-in-berliner-einwanderervierteln-warum-corona-menschen-mit-migrationshintergrund-haeufiger-trifft/26971770.html
[2] https://www.deutschlandfunk.de/coronavirus-rki-stellt-umstrittene-wieler-zitate-zu-covid.1939.de.html?drn:news_id=1233855


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