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»Ich vermisse einen Aufschrei« Kenan Kolat im Interview mit Ines Wallrodt (Neues Deutschland) über den Verlust von Vertrauen und die Weigerung der Gesellschaft, Rassismus zu erkennen

Dienstag, der 13. November 2012Aktivitäten, Rassismus und Anti-Diskriminierung, Themen

Migranten erleben täglich, was rassistische Vorurteile sind. Im Gespräch erzählt Kenan Kolat von einem türkischen Familienvater, der wegen Eindringlingen die Polizei rief und bei ihrer Ankunft als erstes selbst gefesselt wurde. Die Polizei hielt automatisch ihn für den Täter. Mit Kolat sprach Ines Wallrodt.

Kenan Kolat ist seit 2005 Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD), die rund 200 Einzelvereine vertritt. Er wurde 1959 in Istanbul geboren, kam mit 21 nach Deutschland, um zu studieren. Er ist Diplom-Ingenieur und hat die deutsche und türkische Staatsbürgerschaft.

Neues Deutschland (nd): Was haben Sie vor einem Jahr gedacht, als Sie zum ersten Mal von der NSU-Mordserie hörten?
Kolat: Ich war nicht überrascht, dass Rechtsextremisten in Deutschland Menschen ermorden. Aber ich war über das Ausmaß geschockt. Vor allem hätte ich nie gedacht, dass so viele Morde ein und derselben Gruppe den deutschen Sicherheitsbehörden nicht aufgefallen sind. Ich erinnerte mich auch sofort an den dritten Mordfall. Unser damaliger Bundesvorsitzender hatte in einer Pressemitteilung vorsichtig gefragt, ob es einen rassistischen Hintergrund geben könnte. Es hagelte Kritik von allen Seiten. Wir würden die Morde benutzen, um Politik zu machen, hieß es. Aber er hatte Recht.

Was für ein Bild hatten Sie bis dahin von deutschen Behörden?
Ich kam mit 21 zum Studium nach Deutschland. Mit einem sehr positiven Bild. Meine Freunde waren schon immer skeptischer und haben mir gesagt, bei der Polizei gebe es viel Diskriminierung. Ich habe das nicht geglaubt, ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, dass die Behörden systematisch wegschauen. Das Vertrauen ist bei mir und bei vielen türkischstämmigen Menschen in Deutschland verloren.

Haben Ihnen die Menschen in Deutschland Mitgefühl gezeigt?
Am Anfang gab es von der deutschstämmigen Bevölkerung mehr Anteilnahme als Kritik. Wir haben viele E-Mails bekommen. Diese individuellen Gesten haben uns gefreut. Aber der öffentliche Aufschrei blieb aus. Wir haben darauf gewartet, dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen auf uns zugehen und mit uns eine große Demonstration gegen Rassismus machen. Aber nein, wir mussten sie dazu einladen. Ein Zeichen der Gesamtgesellschaft vermisse ich bis heute. Das macht mir mehr Angst als die Gefahr, auf der Straße vielleicht von Nazis überfallen zu werden. Denn ich muss fürchten, dass Leute wie in Rostock-Lichtenhagen zuschauen und Beifall klatschen.

Die deutsche Gesellschaft hat seither nichts gelernt?
Es ist noch immer nicht angekommen, was Rassismus ist. Und die Politik redet den Rassismus klein. Das ist das Hauptproblem. Ich bin Mitglied der SPD und ich kann nicht verstehen, dass Personen wie der Neuköllner Bürgermeister Buschkowsky in der Bundeszentrale eine Bühne für ihre Stigmatisierungsdiskurse bekommen. »Wir und Ihr, die Türken, die Araber« – dieser Populismus führt zu Rassismus. Und Rassismus kann zu Tötung führen. Inzwischen hat sich auch der Tenor der E-Mails an uns verändert. Nach meiner Pressekonferenz zum Thema NSU habe ich diese Woche 30, 40 Mails bekommen – bis auf eine waren alle Schmäh-Briefe (siehe Spalte). Leute mit Doktortitel schreiben mir: Herr Kolat, sagen Sie doch erst mal etwas zum Alexanderplatz, ehe Sie über die alten Morde reden. Abgesehen davon, dass ich bei der Trauerfeier dabei war, viele Interviews gegeben habe: Wie man einen Tod gegen den anderen aufrechnen kann, das kann ich nicht begreifen.

Wie kommt man tief verankertem Rassismus bei?
Als erstes muss man diese Strukturen erkennen und anerkennen. Wir sind aber noch nicht einmal an diesem Punkt. Die Mehrheit in Deutschland weist die Aussage zurück, dass es ein Problem mit Rassismus gibt. Wenn der Chef der Polizeigewerkschaft ein Urteil gegen rassistische Polizeikontrollen verspottet, gibt es keine große Reaktion aus den Gewerkschaftskreisen. Es wird auch allgemein hingenommen, dass politische Mandatsträger es ablehnen, in Rostock eine kleine Straße nach dem dort ermordeten Mehmet Turgut zu benennen. Das ist eine Schande. Wir haben den Eindruck, dass die Aufklärung der Morde auch deshalb so schleppend vorankommt, weil die Opfer »nur« Türken sind. Zunächst war sogar unsere Forderung nach einem Untersuchungsausschuss abgelehnt worden.

Der Untersuchungsausschuss hat das Versagen der Behörden inzwischen offenkundig gemacht. Warum meinen Sie trotzdem, die Aufklärung komme nicht voran?
Es stimmt: Ohne den Ausschuss wäre gar nichts ans Licht gekommen. Die Behörden hätten alles unter den Teppich gekehrt. Aber der Ausschuss weiß nur so viel, wie die Beamten ihm liefern. Und die mauern nach wie vor. Strukturell hat es keinerlei Konsequenzen gegeben. Diejenigen, die während der Mordserie in verantwortlichen Posten waren, sitzen weiter in den Apparaten oder sind sogar aufgestiegen wie der Vize-Verfassungsschutzchef, der jetzt Staatssekretär beim Bundesinnenminister ist. Die sind selbst betroffen und haben natürlich überhaupt kein Interesse an Aufklärung! Der Bundesinnenminister will alles deckeln. Ich würde mir wünschen, dass die Bundeskanzlerin die Sache an sich zieht.
Angela Merkel scheint sich bislang weitgehend rauszuhalten.
Sie hat den Hinterbliebenen der Opfer Aufklärung versprochen. Ich vertraue ihr. Sie sollte eine Bundeskabinettssitzung nur zu dieser Thematik machen und sie sollte alle Beteiligten – BKA, Verfassungsschutz, Bundesländer – zu einem Antirassismus-Gipfel einladen. Wenn sich nichts ändert, kann es in den nächsten Jahren weitere solcher Morde geben. Zwei Drittel der Türken in Deutschland gehen davon aus. Ich hoffe, dass wir nicht wieder Recht behalten.

Waren Sie in den vergangenen zwölf Monaten jemals unsicher, ob es richtig war, nach Deutschland zu kommen?
Trotz allem werden wir hier leben. Vielleicht sogar gerade deswegen. Manchmal verliere ich ein bisschen die Hoffnung, aber dann denke ich, du musst aufstehen und weiter kämpfen.